Was wird aus Afghanistan?

Versuch einer Bestandsaufnahme

Zwei Tage im Jahreslauf werden mit Afghanistan in Verbindung gebracht: Im Westen ist es in erster Linie der 11. September, der Tag an dem die Al Qaida mit gekaperten Passagierflugzeugen das World Trade Center in New York, das Pentagon und andere Ziele in den USA angriff. Dieser 11. September jährt sich heuer zum 20. Mal. Der andere Tag ist der 19. August, der Nationalfeiertag Afghanistans. Am 19. August 1919 erklärte Afghanistan seine Unabhängigkeit.

Ob dieser 19. August weiterhin als Nationalfeiertag Afghanistans gefeiert wird, wird sich zeigen. Die neuen Machthaber, die Taliban, haben bekanntlich nur wenig Verständnis für Feiern, die nicht religiös begründet sind.

So oft wir über Afghanistan und Afghanen auch sprechen, wissen wir Mitteleuropäer doch vergleichsweise wenig über das Land und seine Menschen. Das landschaftlich wunderschöne Land mit seiner bewegten Geschichte ist vor allem eines: Kompliziert. Unzählige verschiedene Ethnien mit rund 50 verschiedenen Sprachen und an die 200 verschiedenen Dialekten stellen die geschätzt 40 Millionen Einwohner. Seit Jahrhunderten ist es Zankapfel zwischen den Großmächten der Welt. Seit der Antike wurde das Land zwischen einzelnen Mächten hin und hergerissen und die Bewohner waren für ihren Widerstand gegen alle möglichen Herrscher berüchtigt und gefürchtet. Selbst der als „islamische Expansion“ bekannte rasante Eroberungszug der Anhänger Mohammeds stieß in Afghanistan auf so heftigen Widerstand, daß das Land – vielmehr seine Menschen – erst zwei Jahrhunderte nach ihren Nachbarn muslimisch waren.

„Beschützt mich vor meinen Freunden!“
Der afghanische König zwischen dem russischen Bären und dem britischen Löwen.


Später, im 19. Jahrhundert stritten sich vor allem das russischen Zarenreich und das britische Empire um das Land. Beide sahen sich als „Beschützer“ und Freunde Afghanistans. Diese „Freundschaft“ war aus Sicht der Afghanen sehr einseitig und unerwünscht. Die Kolonisierung Afghanistans kostete dem Empire schlußendlich unzählige Soldaten und Unmengen an Geld. Faktisch war Afghanistan nur auf dem Papier und in den Träumen der Briten ein Teil des britischen Empire. Die größte Volksgruppe, die Paschtunen, stellten seit jeher die Könige Afghanistans. Allfällige Ausnahmen, wie König Habibullah Kalakâni (1890 – 1929), ein Tadschike, wurden landesweit verspottet. Besagter König wurde zudem ermordet. Grundsätzlich ist der gewaltsame Tod von Staatsoberhäuptern seit langer Zeit eher die Regel als die Ausnahme.

Afghanische Kämpfer in einer Darstellung aus dem 19. Jhd.


1973 endete die Monarchie in Afghanistan. Ein Cousin des Königs richtete gemeinsam mit den Kommunisten ein Schreckensregime ein, das selbst die Sowjetunion entsetzte und 1979 mit der Entsendung von Truppen intervenierte. Anfangs jubelten die Afghanen über die Befreiung vom kommunistischen Terrorregime durch ausgerechnet Sowjettruppen und man freute sich über die Freilassung von zehntausenden politischen Gefangenen.
Doch machte die Sowjetunion dann einen großen Fehler: Man ließ die Truppen einfach im Land. Und diese offensichtliche Besetzung konnten die Afghanen überhaupt nicht ertragen. Die Islamisten, die zuvor das brutal religionsfeindliche Kommunistenregime bekämpften, formierten sich neu und riefen zum Dschihad gegen die Truppen der UdSSR auf.

Die AK-47 aus russischer Produktion war die Standardbewaffnung der Roten Armee und schon bald auch ihrer Gegner, der Mudschahedin.


Dies war dann auch der Punkt, an dem die Mudschahedin, die Gotteskrieger, für die im kalten Krieg mit der UdSSR stehenden USA interessant wurden. Getreu dem ohnehin für sich schon schwachsinnigen Grundsatz „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ begann man, die afghanischen Kämpfer gegen die Sowjetunion mit Waffen zu versorgen. Für die Finanzierung sorgten zudem Pakistan und Saudi-Arabien. Die Mudschahedin waren bis dahin mit alten Waffen, teilweise noch Beutewaffen der britischen Kolonialtruppen aus dem 19. Jahrhundert, gegen die mit Panzern, automatischen Handfeuerwaffen und Raketen ausgestattete Rote Armee angetreten. Nun wurden sie von den USA ebenfalls mit Maschinenpistolen, Sturmgewehren und Panzerabwehrraketen ausgerüstet. Das Waffenmaterial – in erster Linie russischer Bauart – wurde über dunkle Kanäle auf dem internationalen Markt besorgt. Nun konnten sich die Mudschahedin auch mit baugleichen Beutewaffen und Munition aus den Beständen der Besatzern versorgen.
Und als die Sowjets auf Grund der hohen Verluste der Bodentruppen begannen, mit Kampfhubschraubern die afghanischen Kämpfer anzugreifen, besorgten die USA auch passende Luftabwehrraketen für die Mudschahedin.
Das Resultat ist bekannt. Nach zehn Jahren unsäglich grausamen Gemetzeln und Scharmützeln zogen die Sowjet-Truppen 1989 ab. Das von der UdSSR gestützte Regime um Präsident Nadschibullah hielt sich noch bis 1992. Dann hatten die hatten die Mudschahedin auch Kabul erobert und das Machtzentrum übernommen.

Treffer einer russischen RPG-7-Panzerabwehrrakete. Die RPG-7 war eine der beliebtesten Waffen der Mudschahedin und später der Taliban. (Symbolbild)


1994 gründeten sich die Taliban. Der ideologisch-religiöse Hintergrund der – damals als Steinzeit-Islamisten bezeichneten – Terrorgruppe findet sich in religiösen und militärischen Ausbildungslagern in Pakistan. Dort waren afghanische Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge ideologisiert und radikalisiert worden.
Wie weit die Verstrickungen Pakistans in die unzähligen blutigen Konflikte Afghanistans der vergangenen 50 Jahre hineinreichen, kann man nur erahnen. Aber immer wieder stolpert man über Verbindungen nach Pakistan. Auch die Rolle des pakistanischen Geheimdienstes ISI, eines tatsächlichen Big Players auf der Weltbühne der intelligence-services, ist zu hinterfragen. Laut offiziellen Stellen hatte Pakistan beispielsweise nie eine Ahnung vom bereits jahrelang im Land befindlichen Osama Bin Laden… Und man wußte nie etwas von Terror-Ausbildungscamps der Al Qaida… All das wirkt eher unglaubwürdig und schwer nachvollziehbar.
Zurück in die 1990er: Der Bürgerkrieg zwischen den radikal-islamistischen Taliban und den kaum weniger gefährlichen Mudschahedin-Bündnissen zieht sich über Jahre. Wechselnde Allianzen, alte Stammesfeindschaften und neue Verbündete prägen die Jahre des Bürgerkriegs bis 1996 die Taliban (mehr oder weniger) offiziell die Macht übernahmen. Trotzdem gab es keinen Frieden. Die neuen Machthaber, die umgehend begannen, alles, was ihrer Ansicht nach dem Islam und seinen Gesetzen widersprach, zu verbieten und zu zerstören, hatten in der sogenannten „Nord-Allianz“, einem Bündnis aus Stammesführern und kriegserprobten Warlords einen starken und permanenten Gegner, der sich nicht unterwerfen ließ.
Als Drahtzieher, oder zumindest Beteiligte in diesem Konflikt tauchten immer wieder der pakistanische Geheimdienst ISI und die neue Größe des islamistischen Terrors Al Qaida auf. Bereits in den 1990ern gab es wiederholte Versuche durch die USA, den Al Qaida-Anführer Osama Bin Laden zu verhaften. Man verhandelte geheim mit Taliban-Anführern, die wiederholt die Möglichkeit einer Auslieferung Bin Ladens in den Raum stellten, wenn die USA Beweise für die Verwicklung Bin Ladens in die schon damals zahlreichen Terroranschläge der Al Qaida vorlegen können. Die Pakistani spielten zu diesem Zeitpunkt die Rolle eines Vermittlers zwischen den weltweit nur von wenigen Staaten als Regierung anerkannten Taliban und den USA. Allerdings war es wirklich nur ein Schauspiel. Die USA brachten Dossiers mit Beweisen, die Taliban lieferten trotzdem nicht aus und Pakistan spielte Bedauern und Verwunderung vor.

Osama Bin Laden, Anführer der Terrororganisation Al Qaida, in einem seiner Verstecke in den afghanischen Bergen.


Der 11. September 2001 änderte die Situation für Afghanistan: Wieder standen die USA nach den massiven Terroranschlägen mit Geheimdiplomaten vor der Taliban-Tür und wieder forderten sie die Auslieferung des Terrorpaten. Und wieder verweigerten die Taliban mit der Begründung, es gäbe keinen Beweis für Bin Ladens Beteiligung, die Auslieferung. Allerdings hatten die Taliban mit der Vermutung, daß die USA keine Bodentruppen in Afghanistan in Einsatz brächten, zu hoch gepokert. Die USA und Verbündete aus der Nato kamen. Zuerst mit massiven Bomben- und Raketenangriffen auf ausgesuchte Ziele, und dann mit zig Tausenden an Bodentruppen, modernstem Kriegsmaterial und dem festen Willen, dem sicheren Hafen für islamistische Terroristen ein Ende zu bereiten.
Wieder waren die Menschen Afghanistans anfangs erfreut über eine Macht, die sie von der Terrorherrschaft der Taliban befreite. Doch war es wieder der Fehler der Befreier, nicht einfach nur die Unterdrücker zu beseitigen und danach zu verschwinden, sondern sich wieder festzusetzen. Den Wunsch, in Afghanistan einen Staat mit ansatzweise westlicher Prägung zu installieren, unterstützten nur sehr wenige Afghanen. Die meisten wollten in ihrer traditionellen Gesellschaftsordnung einfach endlich in Frieden leben.

Ein Angehöriger der afghanischen Streitkräfte beim Abfeuern einer Panzerabwehrrakete.


Die USA und ihre Verbündeten besetzten die Städte, errichteten Stützpunkte, Checkpoints, Flugfelder und Versorgungslager. Und nachdem man Städte und Hauptverkehrsadern mehr oder weniger unter Kontrolle hatte, verkündete man den Sieg. Dies war wieder eine komplette Fehleinschätzung der Situation: In einem Land, in dem rund 80% der Bevölkerung am Land lebt, herrscht man nicht durch das Kontrollieren der Städte. Nichtsdestotrotz begann man mit der Gestaltung des neuen Afghanistans. Allerdings geschah dies ohne Einbindung der Durchschnittsafghanen und war so zum Scheitern verurteilt. In weiten Teilen des Landes ist die Alphabetisierungsquote unter 30%. Die tatsächlichen Sorgen vieler Menschen am Land sind Wasserversorgung und grundsätzliche medizinische Hilfe. Allerdings wurden von den Nato-Mächten sogar Millionenbeträge für Programme wie „Gender-Mainstream“ ausgegeben, während gleichzeitig die Säuglingssterblichkeit in einem schrecklich hohem Maße bestehen blieb und nur sporadische ärztliche Versorgung über mit Geländewagen durchs Land fahrende freiwillige Mediziner erfolgte.

Die Schönheit dieses Landes wird durch seine Konflikte überschattet.

All diese Umstände, dieses Unverständnis für Land und Leute sorgten für eine gute Basis für die Rückkehr der Taliban aus der scheinbaren Versenkung. Während die Nato-Truppen noch im Land waren, begannen Taliban und andere Gegner der Besetzung und „Neugestaltung“ Afghanistans mit ihren Angriffen auf die westlichen Truppen, sowie die Einheiten der Regierung. Über Jahre wurden nun ganze Landstriche, ganze Provinzen von den Regierungsgegnern zurückerobert. Von Anfang an hatten die Truppen der Regierung trotz Ausbildung und Ausrüstung durch westliche Großmächte nur wenig Erfolg im Kampf gegen Taliban und andere Organisationen. Nun war es den USA endgültig klar: Dieser Krieg in Afghanistan ist nicht zu gewinnen, und man muß ehestmöglich ein Ausstiegsszenario planen und umsetzen. Über Jahre wurden nun langsam aber konsequent Mannschaften und Teile des Geräts außer Landes geschafft. Ein großer Teil von Waffen und Ausrüstung wurden für die Regierungseinheiten zurück gelassen.
In kompletter Fehleinschätzung der Lage wagte man zum Schluß nun den „großen Wurf“ und zog ein großes Kontingent auf einmal ab. Man vermutete ernsthaft, daß sich die Regierung und ihre Truppen gegen die Taliban stellen würden und so einen mehrmonatigen Abwehrkampf mit gegenseitigem Zermürben liefern.

Keine klapprigen alten AK-47 aus russischer Produktion, sondern moderne AR-15 aus US-Beständen sind die beliebtesten Waffen der Taliban. Die Herkunft der Waffen ist „natürlich“ unklar.

Schlußendlich haben wir nun das Resultat einer ganzen Reihe von Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen vor Augen: Die Taliban haben die meisten Städte inklusive der Hauptstadt Kabul ohne nennenswerten Widerstand genommen und der Präsident ist (angeblich mit vier Limousinen voller Bargeld und Wertgegenständen) geflohen. Und die Taliban lassen sich mit den modernen Waffen aus US-Produktion im Präsidentenpalast fotografieren.
Wie sollen die westlichen Länder, wie soll Europa, wie soll Österreich nun mit dieser Situation umgehen?
Vielleicht sollte man zuerst beginnen, die Dinge verstehen zu lernen. Und dann sollte man vielleicht einfach die Finger davon lassen. Seit Jahrhunderten haben die vielen Stämme Afghanistans, die schon untereinander oft heillos zerstritten sind, ein klares Signal nach außen gesandt: Laßt uns in Ruhe! Scheinbar wollen die Afghanen lieber von heimischen Despoten beherrscht, als von fremden Idioten befreit werden.
Wie sich die Taliban, die derzeit offensichtlich einen guten PR-Berater haben, wirklich in naher Zukunft verhalten werden, wird sich zeigen. Ob sie ein steinzeit-islamistisches Regime wie vor 25 Jahren etablieren oder sich annähernd zivilisiert verhalten, kann man jetzt schwer beurteilen.

Ob es künftig noch Mädchen in Schulen gibt, wird sich zeigen.


Täglich kommen sich widersprechende Nachrichten aus Afghanistan zu uns. Einmal hört man von Taliban, die mit Todeslisten die Häuser abklappern, dann wieder von einer Generalamnestie für alle Kollaborateure mit den Westmächten. Die Taliban geben seltsamerweise auch bekannt, daß sie vorhaben, die Frauenrechte zu achten. – All das natürlich im Rahmen der Sharia… Was immer das dann auch heißen mag…
Man hört von kriminellen Banden, die sich als Taliban ausgeben, Häuser berauben und Frauen verschleppen. Man hört auch von angeblichen Geheimabsprachen zwischen den USA und den Taliban, was die Übergabe der Macht anbelangt.
Man hört sehr viel von sogenannten Experten. Allerdings sind das die gleichen Experten, die vor einer Woche keine Gefahr einer raschen Machtübernahme durch die Taliban erkannten und seinerzeit keine Silbe verloren, als man Geld in Gendermainstream-Projekte statt in den Brunnenbau steckte.
Rußland und China haben bereits ihr reges Interesse an Gesprächen und Zusammenarbeit mit dem sich eben neu etablierenden Taliban-Regime bekundet.
Es wird sicher nicht die große Sympathie mit den Islamisten sein, die Chinesen und Russen zu diesem Schritt animierten, sondern die Unmengen an Bodenschätzen, von denen man bereits weiß und der zu erwartende Riesenprofit, auf den man hofft. China wie Rußland stellten allerdings auch klar, daß es nur Hilfe und Zusammenarbeit gibt, wenn sich das Land nicht wieder zur Drehscheibe des Terrors entwickelt. Beide Länder haben auch großes Interesse daran, ein Übergreifen islamistischen Revolutionsdenkens in ihre eigenen von Moslems bewohnten Gebiete zu verhindern.

Afghanistan könnte dank seiner Bodenschätze eines der reichsten Länder der Region sein.


Die Staaten des Westens täten gut daran, es den Russen und Chinesen gleichzutun und Gleichgültigkeit zu signalisieren, solange eine Basis an Menschenrechten eingehalten wird. Das scheint auch die einzige Chance zu sein, daß Afghanistan endlich einmal zur Ruhe kommt und sich selbst entwickeln und verändern kann. Hysterische Rufe aus Europa, daß man jeden Afghanen vor dem Taliban-Regime retten wolle, sind hier genauso störend. Nüchtern betrachtet kann man den neuen Machthabern nämlich noch gar nichts vorwerfen. Noch! So gibt es – wenn man es eiskalt und gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention betrachtet – genau jetzt, speziell nach der ausgesprochenen Generalamnestie, keinen Fluchtgrund aus Afghanistan. Dies mag grotesk klingen, ist aber Realität. Erst wenn ein Regime die Verbrechen an der Bevölkerung oder an Teilen von ihr begeht, kann man Fluchtursachen festmachen. Dieser Punkt wird scheinbar nicht nur erwartet, sondern von einigen westlichen Politikern herbeigeredet. Ein schwerer Fehler!
Und wenn sich wieder Flüchtlingsströme in Bewegung setzen, muß man schon jetzt dafür sorgen, daß sie nicht wieder bis nach Europa gehen. Eineinhalb Jahre Corona-Krise haben Europa genügend geschwächt. Ein zweites 2015 kann es nicht mehr ertragen.

Den Afghanen sollte man viel Glück und eine besonnene Regierung wünschen.



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