Gedenken & Gedanken
Am 8. Mai 1945 endete der Krieg in Europa. Beinahe die Hälfte des Jahrhunderts war vergangen und in Europa für Kriege, die mörderischen Auseinandersetzungen zwischen intoleranten Ideologien, für die niedrigsten Triebe, die Menschen auszuleben fähig sind, vergeudet.
Nach diesem Grauen waren sich die Menschen einig, daß es derartige Verbrechen nie wieder geben darf und der Schlüssel zu einem künftigen Leben in Frieden die Freiheit der Menschen, die Freiheit ihrer Staaten sein wird.
„Freiheit ist das Recht der Seele zu atmen.“, heißt es im durchaus sehenswerten Film „Good Will Hunting“. So angenehm sich dieser Sinnspruch auch anhört, geht er doch zu wenig weit. Man atmet nicht, weil man das Recht dazu hat, sondern weil man atmen muß! Und die Seele muß atmen können. Ihr Atem ist die Freiheit. Und wenn sie nicht mehr atmen kann, erstickt die Seele.
Es ist die Freiheit der Menschen sich zu äußern, wenn ihnen etwas gefällt oder auch nicht gefällt. Die Meinungsfreiheit. All dies natürlich in einem vernünftigen, einem gesetzlich gedeckten Rahmen. Denn die Freiheit eines anderen Menschen soll und darf dadurch nicht beeinträchtigt werden. Beschimpfungen oder gar Verleumdungen, oft anonymes Verächtlichmachen, haben so gar nichts mit Meinungsfreiheit zu tun.
Aber das stete Beschneiden der Möglichkeit, auch einmal „Nein!“ zu sagen, ist bereits ein Einschnitt in diese Freiheit. Der Aufbau eines gesellschaftlichen Klimas, in dem viele Menschen ein unangenehmes Gefühl haben, wenn sie ihre Ansichten öffentlich äußern, und lieber darauf verzichten, ist ein Einschnitt in dieses Freiheitsrecht.
Es ist die Versammlungsfreiheit. Menschen wollen sich mit anderen Menschen treffen. Sie wollen sich über Themen austauschen, sie wollen sich für gemeinsam Anliegen organisieren, gemeinsam Sport treiben, gemeinsam forschen, sammeln, vielleicht auch Kaninchen oder Tauben züchten, oder sich einfach nur gesellig zusammensitzen und miteinander reden, plaudern, tratschen. Es ist dieses Recht, das den Menschen erst die Möglichkeit gibt, sich mit den Meinungen und Erfahrungen Anderer auseinanderzusetzen, den eigenen Standpunkt gegebenenfalls zu überdenken und zu korrigieren. Es ist die Möglichkeit der Menschen sich zu zusammenzufinden, um für ihre Anliegen werben zu können, auf ihre Wünsche, Probleme oder Forderungen aufmerksam zu machen. Das Beschneiden dieses Rechts macht die Bürgerinnen und Bürger nicht nur stumm, sondern in ihrem sozialen Leben ärmer. Es läßt deren Seele hecheln. Und wenn diese Menschen, die ihr Recht auf Versammlung, auf Demonstration wahrnehmen, auch noch beschimpft und bedroht werden, ist diese Freiheit nicht nur in Gefahr, dann ist diese Freiheit unterdrückt.
Es ist die Freiheit der Wissenschaft. Der Wunsch des Menschen, sich selbst und seine Umwelt zu erforschen, um sie zu verstehen, ist einer der edelsten Züge unserer nicht immer angenehmen Spezies. Es wird erkundet, experimentiert, probiert, Altes wiederentdeckt, auf Neues gestoßen. Die Idee der Wissenschaft ist seit jeher, ohne Eigennutz einer Sache auf den Grund zu gehen, Fragen zu beantworten, Vorgänge verständlich zu machen, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, um mit dem daraus gewonnenen Schatz an Informationen die Welt ein klein wenig zu verbessern. Das schlimmste, was seit jeher der Wissenschaft widerfuhr, war, wenn sich die Mächtigen der Welt einmischten, wenn sie eigenartige und oft mörderische Zielvorgaben machten, wenn sie ihr politisches Kalkül über die Regeln der Wissenschaft setzten. Auch heute werden wieder Forschungsergebnisse als unerwünscht ignoriert, Mittel für „unnötige“ Forschungen beschränkt, ja sogar gänzlich gestrichen. Regierende treten an die Wissenschaft, an die Forschenden heran und geben ein einziges Ziel zur Lösung eines komplexen Problems vor, ohne die Vorschläge der tatsächlichen Experten wahrzunehmen und in Betracht zu ziehen. Totalitäre Züge sind beim Umgang der Mächtigen mit diesem sensiblen Bereich unserer Gesellschaft zu erkennen.
Es ist die Freiheit der Kunst. Wenn Kunst lebt, dann berührt sie die Seele. Sie packt nicht zu, sie streift sanft, sie streichelt. Und das tut der Seele des Menschen gut.
Eine nicht mit übertriebener Intelligenz geschlagene Politikerin erklärte zur Problemstellung der Künstler im Corona-Lockdown, daß sie ja die Zeit nutzen könnten, um zu malen, um ihr Instrument zu spielen und Stücke zu probieren, um Bücher zu schreiben, zu komponieren, und so weiter… Das Losreißen der Künstler von der Bühne und den Ausstellungen, das Losreißen vom Publikum soll quasi die verordnete Musestunde sein, an dem der kreative Geist auf Knopfdruck sprühen und produktiv sein soll. Losgelöst vom katastrophalen wirtschaftlichen Aspekt ist diese Herangehensweise eine Verhöhnung der Kunst. Viele, nicht alle, aber die meisten Künstler benötigen die Interaktion mit ihrem Publikum. Die Folgen für das Ausbleiben dieser Wechselwirkung zwischen Künstlern und ihrem Publikum können katastrophal sein. Egal, ob es ein Bild ist, das nicht gesehen wird, ein Lied, das nie gehört, ein Buch, das nie gelesen wird… Vielleicht ist es wie der Baum, der im Wald fällt, und man sich fragt, ob er auch dann Krach macht, wenn niemand ist, der ihn hören kann. Den Künstlern das Publikum zu nehmen, ist gleichbedeutend damit, den Menschen die Kunst zu nehmen.
Schrecklich, die Zeit, in der man Künstler nur dann gebraucht und teilweise sogar instrumentalisiert, wenn sie den Interessen der Mächtigen nützen und sie publikumswirksam vertreten. Schrecklich, die Zeit, in der man Schmähungen und Drohungen gegen Künstler ausspricht, wenn sie nicht die Interessen der Mächtigen vertreten. Schrecklich, wie man mit der Freiheit umgeht.
Es ist die Freiheit der Presse. Die oft beschworene und selbst ernannte „vierte Gewalt“ ist – wenn sie nur reichweitenstark genug ist – längst in einer seltsamen Geiselhaft der Mächtigen. Denn die Mächtigen haben das, was die großen, die reichweitenstarken Medienhäuser brauchen: Das Geld (Nicht ihr eigenes, sondern das der Steuerzahler. Versteht sich.). Nie hätte man gedacht, daß diese großen Medienhäuser nur durch die Stützung des Staates und das Wohlwollen der Mächtigen leben und überleben könnten. Eine seltsame und unheilvolle Symbiose wurde sichtbar: Während die Presse, die Medien den finanziellen Tropf aus dem Reservoir der Macht zum Überleben benötigen, brauchen die Mächtigen die wohlwollende Darstellung durch die Presse. Beide Seiten sind in der ständigen Überlegung, ob man es aushält, ob man es so halbwegs unbeschadet übersteht, wenn der jeweils andere plötzlich seine Unterstützung versagt. Die Mächtigen fürchten nichts mehr als eine freie Presse, die nicht auf Zuruf Jubelmeldungen verbreitet. Und die Presse fürchtet, ohne die Förderungen, die kostenintensiven Inserate durch die Regierung und ihren Einflußbereich, durch die Mächtigen, unterzugehen. Die Freiheit der Berichterstattung, des objektiven Blicks auf die Vorgänge im Lande ist dadurch mehr als getrübt. Sie ist eingeschränkt, und dem Untergang geweiht, so sich nicht rasch etwas zum Besseren verändert. Wenn ein Anruf aus einem Ministerium oder dem Kanzleramt in einer der Redaktionsstuben einen geplanten Leitartikel, eine Schlagzeile verschwinden läßt, gibt es keine echte Pressefreiheit mehr. Wenn Pressekonferenzen der Mächtigen zu brennenden Themen, zu gewichtigen Entscheidungen wie Plauderkränzchen wirken, in denen keine kritische Frage gestellt wird, gibt es keine Pressefreiheit mehr. Wer die Presse beherrscht, hat die Macht über die öffentliche Meinung und beeinflußt damit das gesellschaftliche Klima. Und genau das Steuern dieses gesellschaftlichen Klimas ist es, mit dem bereits andere Elemente der Freiheit beschädigt wurden, aber auch wieder repariert werden können. Hier liegt ein wichtiger Schlüssel zur Freiheit, der nie in mutlose und feige, in gierige und egoistische – kurz gesagt – in falsche Hände geraten darf.
An Fest- und Gedenktagen finden sich führende Politiker und Regierungsmitglieder ein, um hohe Reden über die Freiheit zu halten. Sie loben sie als höchstes Gut und gebärden sich bisweilen, als ob sie höchstpersönlich die Freiheit, die wir Menschen bis vor kurzem noch gewöhnt waren und als immerwährend glaubten, erkämpft hätten.
Kurze Momente nach dem publikums- und medienwirksamen Gedenken an Menschen, die tatsächlich ihr Leben für die Freiheit gaben, erklären dieselben Damen und Herren Politiker, daß man zwischen Freiheit und Sicherheit abwägen müßte, daß man sich zwischen Freiheit und Gesundheit entscheiden müße. Ein Instrument der Erpressung, das glauben machen soll, daß es ein berechtigtes Entweder-Oder gäbe. Ein unanständiger Trick mit dem sich Regierende zu Herrschern machen wollen, statt ihrem verfassungsmäßigen Auftrag als erste Diener ihrer Bürger nachzukommen. Sie haben kein Recht über die Freiheit der Menschen zu verfügen und dabei vorzugaukeln, daß sie – zum Schutz von Sicherheit und Gesundheit – die Freiheit verwalten. Wer die Freiheit verwaltet, der raubt sie!
Manch eine Person argumentiert gar damit, daß die Freiheitsrechte ohnehin da wären, nur eben eingeschränkt. – Ein Widersinn in sich! Genausowenig wie Freiheit „herrscht“, kann sie beschränkt sein. Wäre sie beschränkt, dann wäre sie eben keine Freiheit mehr.
Das Leben im 21. Jahrhundert ist nicht risikofrei. Das ist ein Faktum! Mündige Menschen wissen, daß sie sich umsehen müssen, um auf ihre Gesundheit und ihre Sicherheit in weiten Teilen selbst zu achten. Und dies macht den verantwortungsvollen und mündigen Menschen aus. Darum hat er auch das uneingeschränkte Recht auf Freiheit, auf die Möglichkeit, seine Seele atmen zu lassen.