Blut, Schweiß und Desinfektionsmittel! – Die „geheimen“ Mensuren von Berlin.

Illustration aus Mark Twains „A Tramp Abroad“: „The First Wound“

Das Treffen von schlagenden Verbindungsstudenten

Es war kein Kaiserwetter, als sich an einem Samstagmorgen, Mitte März, Männer jeden Alters bei einer Lagerhalle in Berlin-Lankwitz zusammenfanden. Sie kamen zu Fuß, mit Öffis, mit dem Taxi und sichtlich gut gelaunt, voller froher Erwartung. Was die meisten der Herren verband, war die Mitgliedschaft in einer der vielen „schlagenden“ Studentenverbindungen im deutschsprachigen Raum. Verbindungen verbinden eben. Gekommen waren sie, um die dort stattfindenden Mensuren zu beobachten. Das wäre an sich nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich war allerdings, daß diese Veranstaltung in einer Halle, weit weg von den sonst üblichen Fechtböden der Verbindungshäuser stattfand. Und noch ungewöhnlicher war eine der Mensurpaarungen. Da fochten richtige Schwerkaliber ihre 100. und 60. Mensur. Das versprach außergewöhnlich zu werden und lockte höchstwahrscheinlich den Großteil der rund 500 Besucher an.

Der Fechtboden in Berlin-Lankwitz vor Beginn der Veranstaltung.

Die Verbindungen, die Mensuren, … Ein „reaktionäres Mysterium“?
Seit es Universitäten gibt, gibt es Studentenverbindungen in der einen oder anderen Form. Waren sie am Anfang etwas wie vom Landesherren finanzierte (und kontrollierte) Zweckgemeinschaften in Form von „Bursen“ – und von diesem Begriff leitet sich auch der „Bursche“, wie in „Burschenschaft“ ab – entwickelten sie sich weiter über Studentenorden, Landsmannschaften zu Corps, Burschenschaften, Sängerschaften, und so weiter…
Und genau so alt ist auch die Verbindung der Studenten zu Waffen. Ging es am Anfang darum, sich auf dem meist langen Weg zur Universitätsstadt gegen Räuber und Wegelagerer zu verteidigen, war die blanke Waffe später doch ein Statussymbol. Schließlich durften sonst nur Angehörige des Adels oder der Armeen ein Rapier, einen Säbel, Degen oder andere Blankwaffen in der Öffentlichkeit tragen. Und wie es vor Jahrhunderten üblich war, wurden die Waffen auch zur Austragung von Streitereien und Ehrenangelegenheiten, von Duellen, mißbraucht. Kein Landesherr hatte besondere Freude daran. Schließlich waren die Studenten von heute das Staatskapital von morgen.

Fechtunterricht von Studenten Mitte des 18. Jhd.

Aus diesen oft nichtigen und immer mehr ritualisierten Duellen entwickelten sich die Mensuren, benannt nach dem Abstand der Fechter „Mensur“. Immer mehr wurden sie reguliert, auch um ihnen die Gefährlichkeit eines sonstigen Zweikampfs zu entnehmen. Man einigte sich nach und nach auf sehr strenge Regeln, auf Schutzausrüstungen und genaue Einhaltung derselben. Beinahe jede Universitätsstadt im deutschsprachigen Raum hatte ihr eigenes Regelwerk zum Fechten, den sogenannten „Comment“.
Und nach diesen Comments, den Spielregeln des Mensurfechtens, geht es auch heute noch zur Sache. Heute werden diese Mensuren einfach von den jeweils zuständigen Personen, der einzelnen Verbindungen, den Fechtwarten oder Consenioren, untereinander ausgemacht. Keine Duellromantik. Keine wirklich wilden oder gar gefährlichen Geschichten. Auch ein Arzt muß stets dabei sein, da es beim Umgang mit den scharfen Mensurwaffen, den sogenannten „Schlägern“ durchaus zu Schnittverletzungen kommen kann, die ärztlicher Hilfe bedürfen. Trotzdem gibt es beim Mannschaftsfußball in aller Regelmäßigkeit erheblich mehr gefährliche und bleibende Verletzungen.

Die Männer des Tages
Organisiert wurde diese Veranstaltung der besonderen Art von einem derer, die dort zum „Gefecht“ antraten. Alexander Kliesch ist mit 63 nicht mehr im klassischen Studentenalter. Gut, die Uni hat er schon lange hinter sich. Doch zumindest ein Aspekt des Verbindungslebens, das Fechten, ließ ihn seither nicht mehr los. Kliesch ein bunter Hund, in der Welt der Korporationsstudenten, ist ein großer kahlköpfiger Kerl. Ein richtiger Kerl! Ausgestattet ist er mit einer echten „Berliner Schnauze“, die so groß und laut sein kann, daß sie eigentlich eine eigene Postleitzahl verdient hätte. Und dieser Mann trat nun an, um seine 100. Mensur zu fechten.
Das Gegenüber bei dieser Mensur war Thorsten Haß. Auch er schon lange Jahre Mitglied einer schlagenden Verbindung. Doch ist Haß – anders als sein Familienname insinuieren könnte – ein zurückhaltender, netter, freundlicher und scheinbar stets ein Lächeln in seinem Gesicht tragender Mann. Gut 20 Jahre jünger als sein Kontrahent hat er 59 Mensuren gefochten und trat zur 60. an.
Neben diesem Hauptact trafen sich noch sieben weitere Duette der Klingenkunst, um sich zu messen, um zu zeigen, was sie können, oder nur um zu zeigen, daß sie es sich getrauen.
Junge Studenten, die das erste Mal den Schläger zur Hand nahmen, waren dabei, wie auch alte Hasen – kaum älter als Mitte zwanzig – die sich schon öfters dem Klingengewitter stellten.

Kurz vor Austragung der Mensur.

Silentium heißt „Fresse halten!“
Geleitet wurden die Partien – so wie es die Comments vorschrieben – von Unparteiischen, einer Art Schiedsrichter, die den regelkonformen Ablauf überwachten. Den Paukanten, also den fechtenden Männern standen jeweils ein Sekundant zur Seite, der auf die Dauer der Mensur wie eine Art Anwalt, Coach und Mentor für seinen Paukanten da war. Die Sekundanten stellten ihre Paukanten samt Mensurmannschaft vor, fragten beim Unparteiischen an, wenn sie Regelverstöße witterten und verteidigten den eigenen Mann gegen Vorwürfe, die eventuell erhoben wurden. Außerdem gaben sie die stark ritualisierten Kommandos, mit denen die Gänge, also die einzelnen Abschnitte einer Mensur, gestartet und beendet wurden. Ein so ein Gang kann – je nach Comment – von drei bis acht geschlagene Hiebe pro Seite bedeuten. Natürlich nicht nacheinander, sondern gleichzeitig. Die Paukanten versuchen sich gegenseitig zu treffen, dabei aber selbst nicht getroffen zu werden. Blitzschnell wirbeln die Klingen durch die Luft und wenn sie mit Kraft aufeinander prallen, fliegen schon einmal Funken. Geschützt werden die Paukanten mit dicken Handschuhen, festen Stulpen für die fechtenden Arme, Halsschutzbandagen, Kettenhemden und den massiven stählernen Mensurbrillen, welche den Augen besonderen Schutz bieten. Die Köpfe mit jeweils mindestens einer Wange sind die Trefferfläche, die man gleichzeitig vor dem Gegner zu decken versucht.
Bei so großem Auflauf an Interessierten, bei denen man in genügend Gesichtern ablesen konnte, daß es sich um Männer mit Erfahrung handelte, ist es nicht immer einfach, die Ruhe und Ordnung zu wahren. Und bei besonders spektakulären Situationen ging dann schon einmal ein Raunen durch die Menge. Und dies ist etwas, was auf dem Mensurboden mehr als unangebracht und unerwünscht ist. Ruhe bewahren und dem Moment den nötigen Respekt entgegenbringen. Kein Tratschen, kein Schwätzen… Das ist auch das Wesen der Mensur. Zu Reden haben nur der Unparteiische und die Sekundanten. Denn während der Mensur herrscht „Silentium“.
Und als es die Zuseher mit ihrem Raunen und Getuschel zu weit trieben, gab ein Unparteiischer auch eine kleine Latein-Nachhilfe und ermahnte die Zuschauer mit einer sehr freien Übersetzung: „Silentium heißt Fresse halten!“. Das wirkte und die rund 500 Zuseher waren wieder diszipliniert.

Ein „Korbschläger“. Bis heute benutzter Trainings- und Mensurgegenstand.

Die wilden Geschichten
Ein Grund für das teilweise ungerechtfertigte Imageproblem der schlagenden Studentenverbindungen sind die immer wieder kehrenden Schauergeschichten. Und die wildesten Schauergeschichten kommen oft – wie soll es anders sein – von Personen(kreisen), die nie eine Mensur sahen, geschweige denn Kenntnis von deren Ablauf und Regeln haben. So wiederholt sich immer wieder die überaus ekelerregende, wie auch dumme Story, daß sich die Verbindungsstudenten gegenseitig mit Rasiermessern(!!!) Narben in die Wangen schneiden. Eine besonders törichte Behauptung. Nein, die Jungs fechten wirklich.
Eine etwas nachvollziehbarere und doch falsche Geschichte ist, daß man sich Pferdehaare in die frischen Wunden legte, um sie möglichst schlecht verheilen zu lassen, und in Folge sichtbarer zu machen. In der Tat wurden im 19. Jahrhundert Pferdehaare in die frischen Schmisse, also Mensurverletzungen eingenäht. Allerdings waren diese Haare ausgekocht und für damalige Verhältnisse „steril“. Ein Ende des robusten und dicken Haars ragte an einem Rand der nicht ganz verschlossenen Wunde heraus. Sie waren eine Form der Wunddrainage und sie wurden im Zuge des Heilungsverlaufs Stück für Stück weiter rausgezogen und mit dem Haar ging auch seröse Flüßigkeit oder gar Eiter aus der Wunde heraus. So bewirkte der Einsatz des Pferdehaars genau das Gegenteil dessen, was ihm nachgesagt wird.
Und ein letztes der vielen Mißverständnisse, das kurz angesprochen werden soll:
Die Jungs machen das freiwillig. Es gibt niemanden, der sie (mit vorgehaltener Waffe?) dazu zwingt. Natürlich, wer Vollmitglied in einer schlagenden Verbindung sein will, muß diesen „Fechtkampf“ auch mitmachen. Aber das ist bei allen Vereinen so. Wer die von Anfang an bekannten Voraussetzungen nicht erfüllt, kann nicht Mitglied sein. Derselben Logik folgend finden sich auch eher selten Hundehaßer im Verein der Dackelzüchter.

250 Jahre alte, historisch interessante Bilder von Mitgliedern von Landsmannschaften.

Berlin – Ein harter Boden für Verbindungsstudenten
Noch während die Veranstaltung, die insgesamt acht Mensuren, am Laufen waren, meldeten sich auf X (früher Twitter) selbsternannte Antifaschisten und Aktivisten zu Wort und forderten den Rest der Welt mit haarsträubenden Begründungen auf, das Treffen zu stören und nach Möglichkeit zu verhindern. Man versuchte, das Event in eine radikale, reaktionäre und rechtsextreme Ecke zu drängen. Daß es Teilnehmer und Besucher gab, die selbst eher außereuropäisch wirkten, und kein Problem mit den anderen Besuchern hatten, ließ man von Seiten der Schlechtmacher unbeachtet. Und scheinbar ließ sich auch niemand zu dieser so laut geforderten Störung hinreißen.
Alleine, daß man eine Halle für eine solche Angelegenheit mieten mußte, zeigt allerdings, daß sich die Zeiten geändert haben. Hätten sich vor 120 Jahren die Herren Verbindungsstudenten in den nobelsten Säälen der Stadt getroffen, ist das heute überhaupt nicht mehr denkbar. In den altehrwürdigsten Locations sitzen (oft nur selbsternannt) progressive Personen, die gerne schon mal den gediegenen Luxus der damaligen Zeiten genießen, aber die Namen der Erbauer und Stifter entfernen lassen.
Couleur, also Mützen und Bänder als äußere Erkennungszeichen der Studentenverbindungen, sollte man in Uni-Nähe eher nicht tragen. Das gäbe bloß Ärger bis hin zu körperlichen Angriffen. Überhaupt sind die Verbindungen unter Dauerbeschuß von kleinen aber lautstarken Cliquen, die zwar wenig über das Wesen dieser Vereinigungen wissen, aber sehr gefestigt in ihren Vorurteilen sind.
Daß die Herren Verbindungsstudenten in Berlin sich praktisch und pragmatisch zeigten und die ganze Sache einfach in einer Halle abhielten, zeugt von einem Überlebensinstinkt, der es erst ermöglichte, daß es Studentenverbindungen gibt, die auf eine Jahrhunderte alte Geschichte zurückblicken können. Mit diesem Akt des Pragmatismus haben die Korporationen ein Zeichen gesetzt, daß sie mit der Zeit gehen, sich den aktuellen Herausforderungen durchaus anpassen können und bei allen scheinbar antiquierten Seltsamkeiten doch noch irgendwie zeitgemäß sind.

Ein „Glockenschläger“, wie er bspw. in Berlin benutzt wird.




Fotos Mensuren Berlin-Lankwitz © privat

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15 thoughts on “Blut, Schweiß und Desinfektionsmittel! – Die „geheimen“ Mensuren von Berlin.

  1. Ein sehr neutraler und gut recherchierter Artikel. Ein Danke dem Verfasser! Auch wenn sich dadurch die eingefleischte Linke nicht von ihren Vorurteilen abbringen lassen wird, war es für aufgeklärte Menschen ein interessanter Einblick in eine, meist im Stillen verkehrende, Traditionswelt.

  2. Mit Witz, Kenntnis, einem Hauch Selbstironie und sine ira et studio – rundheraus rundherum gelungen. Chapeau!

  3. hervorragender , neutraler , gut recherchierter Artikel.
    Vbr. Kliesch hat nicht nur eine Berliner Schnauze, er ist auch ein hervorragender Sekundant.

  4. sehr schön,mit leichtem ironischen Lächeln geschrieben,fair. gibt es leider zu selten.
    Dafür Danke!

  5. Ein zweiter – wirklich gelungener Artikel!
    Kliesch nimmt immer noch sehr aktiv am Verbindungsleben teil und sekundiert für seine Soraben in Münster.
    Dafür nimmt er auch viele Stunden Bahnfahrt in Kauf!

  6. Das erste Mal das ich (72 Jahre) einen so neutralen und gut recherchierten Artikel lesen kann. Sehr informativ für die jüngeren Generationen. Vielen Dank

  7. Eine in der Öffentlichkeit ungewöhnliche und sicher von vielen nicht geteilte oder erwartete Sicht und Bewertung der Mensuren ! Die Auffassungen zur Mensur haben sich geändert ! Heute passt das scheinbar nicht mehr in unsere Zeit ! ! Wer Mensuren schlägt, wird von vielen als „Gestriger“ angesehen. Die Mensur allein ist, so wie dargestellt diesbezüglich wertfrei. Beurteilt werden kann nur die Person, wie sie sich sonst verhält. Eine Mensur zu schlagen ist in unserem Rechtssystem nicht verboten., also erlaubt. Wer das tut, bekennt sich meist zu einem Aufnahmekodex.
    Wer dazu nicht bereit ist, kommt letztendlich nicht in den Kreis dieser Fechtenden . Die Mensur ist die „Eintrittskarte“. Bist du bereit sie zu lösen, kannst du Mitglied werden. Somit ist die Mensur eine teure Eintrittswkarte, ein hohes Auswahlkriterium ! ! Die Mensur allein ist wertfrei ! ! und ein Auswahlkriterium. Ob ich den Eintritt will oder nicht, ob ich mich dere Mensur stellen will oder nicht, muss jeder für sich persönlich entscheiden ! ! Die Parti als solche ist sportlich, politisch und studentisch wertfrei ! ! Erst wenn man das weitere Verhalten der Fechter politisch betrachtet, kann man zu negativen , politischen Einschätzungen kommen . Das ist aber eine andere Ebene !!!

  8. Das ist einer der besten Artikel, die ich jemals über das Verbindungswesen und ihr Fechtprinzip gelesen habe. Ich selbst bin Alter Herr in der Landsmannschaft Verdensia zu Göttingen und bekenne als solcher damit, natürlich ein Stück weit parteiisch zu sein. Ich werde immer wieder von jungen Menschen gefragt: Wofür stehen schlagende Verbindungen und warum muss gefochten werden? Warum bist du Mitglied geworden? Dieser Artikel beantwortet diese Fragen offen und ehrlich mit einem selbstkritischen, aber auch nicht ganz leidenschaftslosen Blick in das Innenleben der Verbindungen. Es gut so etwas zu lesen, ohne Hass und Polemik.

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