Beitrittskandidat Ukraine?

Blick durch Europa

Am Besten wäre es gewesen, Frau Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hätte sich ein wenig Zeit gelassen und ihre Ideen am 11.11., am inoffiziellen Faschingsbeginn, an dem „die Narren geweckt“ werden, verkündet. Dann hätten viele Vertreter der Diplomatie, der Außen- und Europapolitik vielleicht nur die Augen gerollt, vielleicht sogar gelacht.
Die Tatsache, daß Frau Ursula von der Leyen ihre Ideen zur Zukunft von der Ukraine und der EU im vollen Ernst von sich gab, verärgerte berechtigterweise eine ganze Menge Personen und Staaten.
Zwei erhebliche Fehler beging sie, als sie der überraschten Weltöffentlichkeit verkündete, daß die Ukraine 90% des Weges zum Status eines Beitrittskandidaten geschafft habe.

Der erste Fehler ist einmal der inhaltliche Unfug. Wenn die Ukraine, vor allem die ukrainische Regierung bereits neun Zehntel des Wegs hinter sich gebracht hat, stellt man sich die berechtigte Frage, wie es denn in der Ukraine aussah, als man diese Reise begann. Denn die schier unbeschreibliche Korruption, die Willkür und Bestechlichkeit selbst kleinster Vertreter der Staatsmacht wurde und wird durch den derzeit geschärften Blick der Weltöffentlichkeit in das vom Krieg gebeutelte Land sehr sichtbar. Und ebenfalls wird sichtbar, daß der Präsident vergleichsweise wenig gegen diese unhaltbaren Zustände tut. Zudem befindet sich dieses Land – wie eben erwähnt – im Krieg. Das ist nicht der Zustand, in dem man überhaupt über derart langfristige außen- und wirtschaftspolitische Veränderungen nachdenken sollte. Das Land erfüllt in keinem einzigen Bereich die Mindestanforderungen, die man anderen Kandidaten abverlangte, die sich dann über Jahre hin redlich bemühten, um die innere Verwaltung, die Wirtschaft und das politische System zu verbessern.
Die EU gibt sich nach außen immer wieder gerne als Hort der Demokratie, als Bewahrer besonderer Werte und Freiheiten. In der Ukraine sind in der Zwischenzeit regierungskritische Parteien verboten. In der Ukraine hat der Präsident gerade die anstehenden Wahlen des kommenden Jahres abgesagt. Zuerst wollte er den Wahnsinnsbetrag von 5 Milliarden Euro als Unterstützung zur Abhaltung der Wahl haben. Das wäre gemessen an der Einwohner- bzw. Wählerzahl das hundertfache an finanziellem Aufwand dessen, was Österreich bspw. für eine Nationalratswahl ausgibt. Noch einmal stellt sich die Frage, wie die Ukraine wohl am Anfang ihrer Reise ausgesehen hat, wenn die hier sichtbaren Probleme nur noch 10% des anfänglichen Rucksacks an zu bewältigenden Aufgaben darstellen.

Der zweite Fehler ist ein systemischer. Und zwar der Fehler im System Von der Leyen. Zu keinem Zeitpunkt war die Kommissionspräsidentin berechtigt solch weitreichenden Entscheidungen im Alleingang zu treffen und in die Welt hinauszuposaunen. Unzählige Gremien, der EU-Rat, das Parlament und auch die Kommission sind zuvor einmal zu Rate zu ziehen. Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer haben hier das Wort, sicher nicht die Kommissionspräsidentin. Und es war auch nicht anders zu erwarten, daß sich bereits mehrere Regierungschefs zu Wort meldeten und mit deutlichen Worten ihre Ansicht über die anmaßende Vorgangsweise der Kommissionspräsidentin kund taten. Und bei der Gelegenheit sparte man auch nicht mit dem Ausdruck tiefster Verwunderung über die realitätsfremde Einschätzung der Kommissionspräsidentin.
Es wäre nicht völlig abwegig, wenn diese Anekdote in der Geschichte der EU-Führung den nun ausschlaggebenden Punkt ausmacht, daß Frau Ursula von der Leyen ihre Zeit in der EU-Spitze kommendes Jahr beenden muß. Immer lauter werden die Stimmen, die ihren Abgang eher als Gewinn sehen würden.



Titel-/Vorschaubild © Dati Bendo / European Commission

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