Mehr Realismus statt Ideologie

Gastkommentar von MEP Mag. Roman Haider

Ein Gastkommentar von Europaparlamentarier Mag. Roman Haider über eine notwendige Umkehr in der Europäischen Union

Seit über einem Jahrzehnt schlittert die Europäische Union von einer Krise in die nächste. Angefangen von der Euro- und Schuldenkrise bis hin zur Coronakrise, dem Krieg in der Ukraine und der Energiekrise zeigt sich das Bild eines von immer heftigeren Fieberschüben geschüttelten Kontinents. Die Reaktion der verschiedenen EU-Kommissionen war jedes Mal dieselbe. Mit einer weiteren Vertiefung der Union, also der Kompetenzverlagerung von den Mitgliedsstaaten hin zur Zentrale sollte Europa widerstandsfähiger werden. Jetzt, fünfzehn Jahre nach Ausbruch der globalen Finanzkrise 2007/08, fällt der Befund ernüchternd aus. Die Rezepte der EU haben das Fieber erhöht, die Intervalle zwischen den Schüben werden immer kürzer. Damit wäre es an der Zeit die Medikation zu überdenken, bevor der Patient an dieser unsachgemäßen Heilbehandlung verstirbt.

Die Adventszeit sollte ja eine Zeit der Besinnlichkeit und inneren Einkehr sein. In diesem Sinne (und nur in diesem) darf auch ich auf das Wunder der Besinnung und der Umkehr bei den Verantwortlichen der Europäischen Union hoffen. Denn eine radikale Umkehr hat die Union bitter nötig, wenn Europa weiterhin ein prosperierender und stabiler Kontinent sein soll. Realismus statt ideologiegetriebener Phantasterei wäre das Gebot der Stunde. Am Beispiel der verfehlten Energiepolitik zeigt sich in besonders hohem Ausmaß, wie weit die EU vom Kurs abgekommen ist.

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Die Pläne der EU

Kritiker der EU haben diesen europäischen „Staatenverbund“ bereits seit längerem mit der untergegangenen Sowjetunion (UdSSR) verglichen und abwertend das Kürzel „EUdSSR“ gebraucht. Angesichts des totalitären Charakters des Roten Imperiums ist diese Verunglimpfung sicherlich verfehlt. Dennoch muss man leider feststellen, dass es gerade in jüngster Zeit einige Entwicklungen in der EU gibt, die an manche Aspekte der ehemaligen UdSSR erinnern. Notorisch sind die Fünf-Jahres-Pläne der UdSSR, ausgearbeitet und organisiert von der zentralen Planungsbehörde Gosplan. Doch je ambitionierter die vorgegebenen Ziele im Laufe der Zeit wurden, desto weiter entfernten sie sich von der ökonomischen Realität. Zudem hatten die gigantomanischen, ideologiegetriebenen Pläne teilweise schreckliche Auswirkungen, wie etwa die Katastrophe von Tschernobyl oder die Austrocknung des Aralsees. 1991 waren von den verheißungsvollen Zukunftsversprechen des Sowjetparadieses nur mehr Scherben übrig.

Am 11. Dezember 2019, nur zehn Tage nach ihrem Amtsantritt, stellte die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein Programm vor, das alle bisherigen Projekte der EU weit in den Schatten stellen soll. Der sogenannte „Europäische Green Deal“ soll Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent der Welt machen, es sollen „keine Treibhausgasemissionen mehr freigesetzt und das Wirtschaftswachstum von der Ressourcennutzung abgekoppelt“ werden, wie in der entsprechenden Mitteilung der Kommission euphorisch angekündigt wird. Der erste Schritt zu Umsetzung dieses Plans ist ein Bündel an Maßnahmen unter dem Namen „Fit for 55“, das die Emissionen bis 2030 auf 55 Prozent des Wertes von 1990 senken soll. Dazu sollen unter anderem erneuerbare Energiegewinnungsformen ausgebaut, Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor durch E-Autos ersetzt, die Energieeffizienz gesteigert und die Energiebesteuerung neu geregelt werden; 1,9 Billionen Euro möchte sich die EU das Programm kosten lassen.

Energiegewinnung ohne umweltschädliche Emissionen und ohne Rohstoffe aus Drittstaaten importieren zu müssen, Umweltfreundlichkeit und Autarkie gleichzeitig, das sind die Versprechen dieses Grünen Deals.

Das klingt zu schön um wahr zu sein und leider ist es das auch. Es ist derzeit schlicht unmöglich, einen hochindustrialisierten Kontinent wie Europa nur mit erneuerbaren Energien zu versorgen. Selbst Österreich, das auf Grund seiner Geographie einen sehr hohen Versorgungsgrad mit erneuerbaren Energien wie insbesondere Wasserkraft und Verbrennung von Biomasse hat, ist und wird auch weiterhin auf einen gewissen Anteil fossiler Energien angewiesen sein. Der weitere Ausbau von Wind- und Solarenergie ist auf Grund fehlender Speichermöglichkeiten, hoher Volatilität bei der Stromerzeugung und sehr schlechtem Wirkungsgrad bestenfalls in gewissen Regionen sinnvoll; Wasserkraft steht auf Grund der Topographie nur begrenzt zu Verfügung. Atomkraft ist ein politisch sehr heikles Thema, wie der Streit in Deutschland über den Atomausstieg zeigt; andere Staaten wie Österreich haben sich bewusst gegen die Nutzung von Atomkraft entschieden. So verlockend die Pläne der EU auch klingen mögen, sie sind nicht umsetzbar. Europa wird in näherer Zukunft mangels ausreichender eigener Lagerstätten auf den Import fossiler Energieträger angewiesen sein. Die Spitzen der EU wären gut beraten, diese Tatsache zur Kenntnis zu nehmen statt sich an Utopien zu klammern.

Die verheerenden Folgen des Utopismus

Ungeachtet physikalischer und technischer Realitäten hält die EU an ihrem Programm bisher unerschütterlich fest und hat bereits erste Maßnahmen zur Dekarbonisierung Europas gesetzt. Innerhalb der EU gibt es ein Emissionshandelssystem, bei dem die Betreiber von über 10.000 erfassten Anlagen aus dem Bereich der Industrie und Energiegewinnung für jede Tonne emittiertes CO2 ein Zertifikat vorlegen müssen. Der Großteil dieser Zertifikate wird versteigert, ein kleiner Teil gratis ausgegeben, die Zertifikate werden auch gehandelt. Um den Preis für diese Zertifikate künstlich in die Höhe zu treiben, entnimmt die EU dem Markt seit 2019 jährlich 24 Prozent der Zertifikate und verknappt damit das Angebot. Zudem wird die Zuteilung von Gratiszertifikaten reduziert, für stromproduzierende Unternehmen gibt es überhaupt keine Gratiszertifikate mehr. Wenig verwunderlich sind die Preise für diese Zertifikate von 5,8 Euro pro Tonne CO2 im Jahr 2017 auf fast 100 Euro im August 2022 regelrecht explodiert. Gemeinsam mit anderen, teils nationalen Maßnahmen wie der CO2-Besteuerung in Österreich führt dies natürlich zu einer enormen Steigerung der Energiepreise insgesamt. Der hohe Energiepreis ist also keineswegs nur eine Auswirkung des Krieges in der Ukraine sondern zu einem Gutteil hausgemacht.

Die Auswirkungen sind inzwischen für jedermann spürbar geworden. Nicht nur die Bürger leiden enorm unter den Auswirkungen der Energiepreissteigerung, auch Unternehmen und Industriebetriebe büßen ihre internationale Konkurrenzfähigkeit ein. Alle Warnungen vor dieser Entwicklung, die bereits vor 2022 eingesetzt hat und sich derzeit massiv beschleunigt, wurden als Kassandrarufe oder sinisterer Lobbyismus in den Wind geschlagen. Doch inzwischen ist die Deindustrialisierung Europas in vollem Gange.

Damit schädigt die EU nicht nur Wirtschaft und Bürger, sondern topediert auch ihr eigenes Anliegen, weltweit zu einer Emissionsreduktion beizutragen in mehreren Hinsichten. Waren und Güter, die bisher in Europa unter hohen Umweltauflagen produziert wurden, werden jetzt in Staaten mit deutlich laxeren Vorschriften hergestellt. Während damit der CO2-Ausstoß in Europa sinkt, steigt er in anderen Regionen unverhältnismäßig stärker an. Für diesen Effekt gibt es auch einen Namen: „Carbon leakage““ (CO2-Abfluss). Berechnungen ergeben eine Emissionssteigerung von bis zu Faktor 1,8 bei der Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland. Gleichzeitig sinkt die Investions- und Innovationskraft europäischer Unternehmen, so dass sowohl die Erforschung und Implementierung neuer Energiegewinnungsformen als auch die Umrüstung auf ressourcenschonendere Fertigungsverfahren stark gehemmt wird.

Geht es nach den führenden Politikern der EU, soll das klimaneutrale Europa Vorbild und Avantgarde für den Rest der Welt in Sachen Klimaschutz sein. Die aufstrebenden, energiehungrigen Regionen dieser Erde werden sich jedoch kaum einen Kontinent zum Vorbild nehmen, der seine eigenen wirtschaftlichen Grundlagen zerstört und so mehr und mehr im Chaos versinkt.

Ist eine Trendumkehr möglich?

Dass die Kommission bisher dennoch unbeirrt an ihrem Kurs festhält, ist wohl einer toxischen Mischung aus Abgehobenheit, ideologischem Starrsinn und messianischem Weltverbesserungseifer geschuldet; überhaupt agiert sie immer realitätsferner. Das Europaparlament spielt dabei leider eine ebenso unrühmliche Rolle und versucht beständig, den Eifer der Kommission mit noch weitergehenderen Vorschlägen zu übertreffen. Realistisch betrachtet kann nur eine Änderung der politischen Verhältnisse in den Mitgliedsstaaten und damit einhergehend im Europäischen Rat zu einer Trendumkehr führen. Im Gegensatz zur Kommission werden die nationalen Regierungen von ihren Völkern bestimmt und sind diesen verpflichtet. Bereits bisher hat sich gezeigt, dass der Rat über ein deutlich höheres Maß an Realismus verfügt als Kommission und Parlament. Dazu sind Regierungen, die wieder die Interessen der eigenen Bürger vertreten statt die ganze Welt retten zu wollen, europaweit im Vormarsch.

Vielleicht geschieht aber doch einmal ein Weihnachtswunder und die anderen EU-Institutionen wie Kommission, Parlament und Zentralbank finden vom Utopismus zum Realismus zurück und stellen die Interessen der Europäer in den Mittelpunkt ihrer Politik. Das wäre aber, um realistisch zu bleiben, kein kleines Wunder sondern eher eines biblischen Ausmaßes…

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