
Sprache ist mehr als ein Mittel der Verständigung – sie ist ein System sozialer Grenzen.
Ein Beitrag von Mag. Dr. Rudolf Moser
Weltenbummler, Soziologe, Publizist und unterstützendes Mitglied der IG-Muttersprache
Sprache ist mehr als ein Mittel der Verständigung – sie ist ein System sozialer Grenzen. Wer integriert werden soll, muss sie nicht nur sprechen, sondern auch „verstehen“ lernen, was Sprache über Zugehörigkeit und Identität aussagt.
Der Fremde, der heute kommt und morgen geht, bleibt ein Gast. Er tritt in eine Gesellschaft ein, ohne sie zu verändern. Doch der Fremde, der bleibt, verändert das Verhältnis zwischen Eigenem und Fremden. Mit seiner Anwesenheit entsteht die Frage, ob er sich einfügen oder ob die Gast-Gesellschaft sich verändern muss. Integration ist daher kein automatischer Vorgang, sondern ein sozialer Aushandlungsprozess – und dieser vollzieht sich wesentlich durch Sprache.
Sprache entscheidet darüber, wer als Teil der Gemeinschaft wahrgenommen wird und wer als Außenseiter gilt
Sprache ist weit mehr als ein Werkzeug der Verständigung. Sie ist das Medium, in dem soziale Wirklichkeit entsteht. Wer eine Sprache beherrscht, hat Zugang zu den Bildungseinrichtungen, dem Arbeitsmarkt und den auch „unausgesprochenen“ Regeln einer Gesellschaft. Wer sie nicht beherrscht, bleibt auf Übersetzung angewiesen – nicht nur sprachlich, sondern sozial. Sprache entscheidet darüber, wer als Teil der Gemeinschaft wahrgenommen wird und wer als Außenseiter gilt.
Die Soziologie hat darauf hingewiesen, dass Sprache auch ein Ausdruck sozialer Struktur ist. Der britische Soziologe und Linguistiker Basil Bernstein unterschied zwischen einem „elaborierten“ und einem „restriktiven“ Sprachcode: Der eine erlaubt Abstraktion, Differenzierung, Distanz – der andere bleibt an das unmittelbare Lebensumfeld gebunden.
Für Menschen, die aus anderen sprachlichen und sozialen Milieus kommen, bedeutet Integration daher nicht nur, eine neue Sprache zu lernen, sondern auch, eine neue kommunikative Logik zu verstehen. Eine Sprache zu erlernen ist auch immer mit Sozialisation in ein anderes System verbunden und für eine erfolgreiche Sozialisation von Bedeutung.
Wenn jemand in einem fremden kulturellen und sprachlichen Kontext sozialisiert wurde, bringt er auch eine andere und fremde Ordnung der Welt mit
Jeder Mensch trägt die Prägungen seiner Primärsozialisation in sich – jene frühen Erfahrungen in der Primärgruppe, also der Familie und Gemeinschaft, in denen Sprache, Werte, Normen, Symbole und Weltbilder entstehen. Diese Prägungen sind dauerhaft; sie bilden die Matrix, durch die Neues aufgenommen und bewertet wird.
Wenn also jemand in einem anderen kulturellen und sprachlichen Kontext sozialisiert wurde, bringt er eine andere Ordnung der Welt mit. Die spätere, sogenannte Sekundärsozialisation – Schule, Beruf, gesellschaftliche Teilhabe – kann ergänzen und erweitern, aber sie kann das Fundament nur bedingt verändern. Daraus ergibt sich eine zentrale Erkenntnis: Integration bedeutet nicht, die Primärsozialisation zu löschen, sondern sie mit einer neuen sozialen Umwelt in Beziehung zu setzen. Der Integrationsprozess kann nicht ersetzen, sondern nur erweitern.
Hier zeigt sich der Unterschied zwischen Integration und Assimilation in besonderer Schärfe. Integration zielt auf Teilhabe, ohne die Aufgabe der kulturellen Eigenständigkeit.
Der Migrant muss lernen, die Normen und Werte der neuen Gast-Gesellschaft zu begreifen und die Sprache zu beherrschen. Assimilation dagegen verlangt die Angleichung an die Mehrheit, oft als Bedingung für Akzeptanz. Er wird, sozusagen “einer von uns”. In der Praxis aber verschwimmen die Grenzen. Hinter dem offiziellen Ziel der Integration steht häufig die Erwartung kultureller Homogenität. Wer die Sprache des Gastlandes spricht, gilt als integriert; wer sprachlich abweicht, bleibt Fremder.
Wer die Sprache des neuen Gastlandes allerdings nicht erlernt, kann sich nur in einer Parallelgesellschaft bewegen und er wird immer Fremder bleiben.
Der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein schrieb: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Dieser Satz beschreibt die doppelte Struktur sprachlicher Integration: Einerseits eröffnet Sprache neue Horizonte – sie ermöglicht, sich in einer fremden Gesellschaft zu orientieren, zu verstehen und verstanden zu werden.
Andererseits markiert sie die Grenze dessen, was jemand erfassen und ausdrücken kann.
Wer die Sprache eines neuen Landes erlernt, betritt eine neue symbolische Ordnung. Doch die alte Sprache bleibt als innere Welt erhalten – mit ihren eigenen Bedeutungen, Nuancen und Gefühlen. Integration durch Sprache ist daher kein vollständiger Übergang, sondern eine Zwischenform: ein Leben zwischen Sprachen, zwischen Welten.
Wer die Sprache des neuen Gastlandes allerdings nicht erlernt, kann sich nur in einer Parallelgesellschaft bewegen und er wird immer Fremder bleiben, ja er kann sogar potenzieller Feind des Aufnahmelandes werden, der seine alten Strukturen auch in der Fremde etablieren will.
Sprache steht im Zentrum jedes Integrationsprozesses. Sie kann Brücke oder Barriere sein, je nachdem, wie Gesellschaften mit ihr umgehen. Eine Integrationspolitik, die Sprache nur als technische Kompetenz begreift, übersieht ihre soziale und emotionale Tiefe. In diesem Sinn sind die Grenzen unserer Sprache immer auch die Grenzen unserer Gesellschaft.