Sprache als Gesslerhut: Wie wir uns selbst knechten

Ein Gastbeitrag der IG Muttersprache


Unsere Worte sind nicht nur Ausdruck, sie sind Macht. Wenn Sprache zur Loyalitätsprüfung wird, verlieren wir nicht nur Nuancen, sondern die Freiheit, überhaupt noch zu denken. Ein Artikel über Gendern, Neusprech und den subtilen Druck der Gegenwart.

Die Gewalt der Worte ist älter und gefährlicher als jede Waffe. Wer Sprache kontrolliert, kontrolliert die Wirklichkeit. Das wussten die Nationalsozialisten, die Begriffe wie „Endlösung“ erfanden, um Mord zu verschleiern. Das wusste die DDR, die den „antifaschistischen Schutzwall“ ausrief und damit eine Mauer legitimierte. Und George Orwell hat es in 1984 radikal durchgespielt: Ein Ministerium für Wahrheit löscht Wörter, erfindet neue und entzieht den Menschen damit die Möglichkeit, überhaupt noch frei zu denken.

Heute leben wir nicht in einer Diktatur – doch die Mechanismen kehren wieder. Auch heute verschieben sich Bedeutungen, verschwinden Begriffe, entstehen neue Codes. Wer sie nicht übernimmt, wer sich weigert, sie korrekt zu gebrauchen, der gilt als rückständig, unsensibel, verdächtig. Sprache wird zur Loyalitätsprüfung.

Das sichtbarste Beispiel ist das Gendern. Es ist weniger Instrument der Verständigung als Ritual der Gesinnung. Wer die Sonderzeichen meidet, muss sich erklären. Wer sie verwendet, signalisiert Zugehörigkeit. Doch auch jenseits des Genderns ist unsere Sprache durchsetzt von politisch-medialen Formeln: „Transformation“, „Resilienz“, „Solidarität“. Es sind Wörter, die kaum noch Bedeutung, aber viel moralischen Druck transportieren. Man muss sie wiederholen, um nicht aus dem Chor zu fallen.

So ist Sprache selbst zum Gesslerhut der Gegenwart geworden. Kein Landvogt zwingt uns, aber der soziale und mediale Druck ist ebenso wirksam. Wir verbeugen uns nicht mehr vor einem Hut auf der Stange, wir beugen unsere Zunge vor den Codes der Konformität.

Das Problem liegt nicht in der Absicht – wer wollte Respekt, Gleichberechtigung oder Solidarität bestreiten? Das Problem liegt im Zwang. Sprache, die nur noch Prüfstein der Gesinnung ist, verliert ihre Lebendigkeit. Sie wird hohl, steril, ritualisiert. Sie dient nicht mehr der Wahrheit, sondern der Unterwerfung. Schillers Tell verweigerte den Gruß.

Orwell warnte vor dem Tag, an dem niemand mehr die Worte hat, Nein zu sagen. Unsere Lage liegt dazwischen. Noch haben wir die Wahl: Wollen wir sprechen, um zu verstehen – oder sprechen wir nur noch, um zu bestehen? Die Frage ist unbequem, aber dringend.



Mag. Dr. Rudolf Moser
Weltenbummler, Soziologe, Publizist und unterstützendes Mitglied der IG-Muttersprache

Please follow and like us:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert