Blick durch Europa
Ein Kommentar.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 brachte weiten Teilen der Weltbevölkerung, vor allem denen Osteuropas eine neue Freiheit, die Möglichkeit, staatlich souverän zu sein. Neue Staaten entstanden. Teils hatten diese Staaten, vielmehr ihre Völker, eine Jahrhunderte andauernde Fremdherrschaft hinter sich gebracht und waren von der nun gewonnenen Freiheit unbeschreiblich beseelt und motiviert, das Beste daraus zu machen.
Die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine von der Sowjetunion öffnete nun Tür und Tor zur Verwirklichung eines eigenen Staatsgedankens. Doch zuerst mußten Altlasten beseitigt werden. Das Ziehen neuer Grenzen hatte die Ukraine quasi über Nacht zur drittgrößten Atommacht der Welt gemacht. Die Nuklearwaffen der UdSSR waren neben Rußland in Kasachstan, Weißrußland/Belarus und der Ukraine stationiert. Rußland war die einzige Teilrepublik der früheren UdSSR, die sich nicht „unabhängig“ erklärt hatte und wurde zum „Fortsetzerstaat“ des früheren Sowjetreichs mit neuer Verfassung, neuem politischem System und neuer ökonomischer Ausrichtung. Als „Fortsetzerstaat“ war die nunmehrige Russische Föderation aber auch der Vertragsnachfolger für all die Gläubiger rund um den Globus. Erst später einigte man sich im Rahmen der GUS – Gemeinschaft Unabhängiger Staaten auf eine gemeinsame Übernahme und Aufteilung der Schulden und Guthaben der UdSSR.
Die drei neben Rußland neu entstandenen Atommächte einigten sich mit den USA, Großbritannien und Rußland im Rahmen der KSZE-Sitzung vom 5.12.1994 im Budapester Memorandum darauf, ihre Nuklearwaffen an Rußland zu übergeben. Die USA, Großbritannien und die Russische Föderation verpflichteten sich ihrerseits, die Grenzen und die staatliche Souveränität der drei ehemaligen Sowjetrepubliken zu achten und zu wahren. Mit Hinweis auf die UN-Charta bekundete man den Verzicht auf Gewalt. Außerdem einigte man sich darauf, daß man sich im Konfliktfall unbedingt beraten müße.
Es sollten nur wenige Monate vergehen, bis dieses Memorandum in seiner Kernidee, sich gegenseitig nicht zu schaden, gebrochen wurde. Die Ukraine unterstützte neben islamistischen Gruppierungen die nur von Georgien und dem Talibanregime Afghanistans anerkannte tschetschenische Republik Itschkerien im Krieg gegen Rußland. Dieses Tschetschenien war auf russchischem Staatsgebiet entstanden und so eigentlich eine innerrussische Angelegenheit. Die Freiwilligen der UNA-UNSO, einer rechtsextremen ukrainischen Partei mit eigenem paramilitärischem Verband kämpften auf tschetschenischer Seite gegen die russischen Truppen. All dies mit Wissen der ukrainischen Regierung. Speziell diese Truppe trat immer wieder in Erscheinung, wenn es in bewaffneten Konflikten gegen Rußland ging.
Im Vergleich zu anderen ehemaligen Ostblockstaaten oder Sowjetrepubliken ging der Fortschritt in Richtung wirtschaftlicher Unabhängigkeit und politischer Freiheit in der Ukraine nur langsam voran. Schnell hat sich ein System der Schattenwirtschaft, der Korruption und mafiösen Strukturen eingerichtet. Westliche Unternehmer, die in der Ukraine ihr Glück versuchten und teilweise große Investitionen tätigten, kamen oft resigniert zum Schluß, daß es zu viele Stellen gäbe, die man „schmieren“ müsse, als daß sich die Geschäftstätigkeit rentieren würde. Oft war vom „wilden Osten“ die Rede. Handelsunternehmen erreichten von einem auf den anderen Tag ihre Standorte in bspw. Kiew nicht mehr. Und als man persönlich vor Ort überprüfen wollte, was mit dem ukrainischen Büro passiert sei, fand man oft nur noch leere Räume vor. Die oft teure Infrastruktur war verschwunden, genauso wie die ukrainischen Geschäftspartner. Von den Behörden konnte man kaum Hilfe erwarten. Oft wurde auch dort noch nach Schmiergeld gefragt, bevor man einen Finger rührte.
Die Ukraine war auf dem Rücken eines sehr produktiven Volkes zum Spielball von Oligarchen und Kleptokraten geworden. Daß der Hollywood-Film „Lord of War“ in all seiner Dramatik doch ein Abbild eines echten Waffenhändlers, namens Wiktor But, war, sollte nicht verwundern. Auch er machte die großen Waffendeals mit Material aus der Ukraine. Der wilde Osten war kaum mehr zu zähmen. Während sich im Baltikum die Staaten modernisierten, begann in der Ukraine eine Serie von so machtverliebten, wie skrupellosen und unfähigen Machthabern. Je nach Möglichkeiten ließen sich die ukrainischen Machthaber abwechselnd vom Westen oder Rußland für ihre Kooperation bezahlen. Besonders freche Politiker hielten bei beiden Seiten die Hand auf und erfüllten keines der den Sponsoren gegebenen Versprechen. Besonders der Westen, die USA, wie auch die EU machten sich besonders schuldig, als sie Milliarden an Steuergeldern in die Rachen von bekannt kriminellen und korrupten Politikern stopften, deren einziger „Bonus“ es war, gegen eine Kooperation mit der russischen Föderation zu sein. 24 Wechsel der Ministerpräsidenten seit Anfang der Unabhängigkeit der Ukraine in den 1990ern zeigen, wie instabil die politischen Verhältnisse sind und auch, wie unzufrieden die Ukrainer mit ihren amtierenden Politikern waren und sind. Eine kurze Zeit des Fortschritts gab es unter Ministerpräsident Juschtschenko, der es im Jahr 2000 schaffte, das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts auf 6% zu erhöhen und die Auslandsverschuldung um ca. 20% auf immerhin noch 10 Mrd. Dollar zu verringern. Die Unzufriedenheit mit den jeweils herrschenden Cliquen zeigten sich auch in den oft sehr gewalttätigen Protesten am Maidan.
Die erste im Westen wahrgenommene Protestbewegung war die sogenannte „orange Revolution“, bei der die bei der Wahl unterlegene Seite Juschtschenkos der – laut einem mehr als fragwürdigen Wahlergebnis – siegreichen Seite Janukowytschs Wahlbetrug vorwarf. Laut unabhängigen Beobachtern war die Wahl freundlich ausgedrückt eine Farce. Unfreundlich wäre sie als Betrug bezeichnet worden. Pikant war in diesem Zusammenhang, daß man beiden Seiten Wahlbetrug vorwarf. Und es scheint nicht abwegig, daß alle Seiten betrogen hätten. Mit diesem friedlichen Umsturz war allerdings keine Zeit der Ruhe und Stabilität eingekehrt. 2005 unterzeichnete die Ukraine einen bilateralen Aktionsplan mit der EU. Rechtsstaatlichkeit, die Entwicklung einer Marktwirtschaft und Stabilisierung der politischen Verhältnisse waren die Zielsetzung dieses Plans und Grundvoraussetzung für eine Aufnahme in die WTO – World Trade Organization (Welthandelsorganisation). Als Rußland (sicherlich auch als Reaktion auf diesen marktwirtschaftlichen Vorstoß) ankündigte, die aus UdSSR-Zeiten stammenden Erdgas-Lieferbedingungen an die Weltmarktrealität anzugleichen, war die Ukraine jedoch nicht einverstanden. Schließlich hätte sie dann keinen vergünstigten, sondern den einen marktüblichen Preis für das Erdgas begleichen müssen. Und die Ukraine hatte bislang auch das ihnen aus Rußland gelieferte Gas zum fünffachen Preis in den Westen verkauft. Es folgte ein jahrelanger Konflikt mit Rußland mit wiederholten Drohungen der Ukraine, die Gaslieferungen Rußlands in den Westen zu blockieren und so eine der wichtigsten Einnahmequellen der Russischen Föderation zu kappen.
In der ukrainischen Innenpolitik blieb es beim Alten, also bei Korruption, Misswirtschaft und teilweise kriminellen Machenschaften. In den Oblasten mit hohem russischen Bevölkerungsanteilen führte dies zu besonders starker Unzufriedenheit. Nicht zuletzt, weil man die bislang als Amtssprache gültige russische Sprache teilweise nicht mehr anerkannte, russischsprachige Schulen schloß und überhaupt eine Politik der radikalen Ukrainisierung betrieb. Der immer wieder fälschlicherweise als friedlicher Protest dargestellte Euromaidan 2013/2014 mit Hunderten Toten war der nächste Schritt zur Ablösung der unbeliebten Regierung unter Ministerpräsident Mykola Asarow. Schon bei seiner Ernennung im Dezember 2012 zettelten Vertreter der Oppositionsparteien Massenschlägereien im ukrainischen Parlament, der „Werchowna Rada“ an. Als der amtierende Präsident Janukowytsch die Unterzeichnung eines Asoziierungsabkommens mit der EU verschob, wurden umgehend massive Proteste organisiert. Bis heute werden immer wieder Geldflüsse und Organisationsstrukturen aus dem westlichen Ausland zu den Organisatoren der Proteste aufgedeckt. Mit dabei beim Euromaidan war wieder einmal die bereits bekannte rechtsextremistische UNA-UNSO.
Der Euromaidan endete mit einem Sturz der Regierung, des Präsidenten und einem Aufschwung russophober politischer Gruppen, die nun glaubten, der Moment sei gekommen, an dem sie „das Sagen“ hätten. So marschierte der Veteran des Tschetschenienkriegs Oleksandr Musytschko, ehemaliger Kommandeur des UNA-UNSO-Regiments „Wiking“ (sic!) am 24.2.2014 mit einem Sturmgewehr bewaffnet ins Regionalparlament des Oblast Riwne und befahl den anwesenden Abgeordneten und Regierungsbeamten, Familien von Teilnehmern des Euromaidan bei der Wohnungsvergabe vorzuziehen. Der wegen Kriegsverbrechen von russischen Behörden gesuchte Musytschko mit dem Kampfnamen „Weißer Sascha“ starb einen Monat später bei einem Polizeieinsatz.
Am 27.2.2014 schaffte Rußland auf der Krim Tatsachen. Die Krim, die bis 1954 zur Rußland gehörte und vom damaligen Sowjet-Staatschef Nikita Chruschtschov der Ukraine angegliedert wurde, ist mehrheitlich russisch bevölkert. Außerdem liegt der wichtige russische Flottenstützpunkt Sewastopol auf der Halbinsel. Von den militärischen Einrichtungen der russischen Föderation aus, rückten russische Soldaten – im Volksmund „kleine grüne Männchen“ genannt – an sicherheitsrelevante Punkte vor, besetzten Regierungsgebäude, Verkehrsknotenpunkte und Versorgungszentren. Diese Besetzung lief faktisch ohne Zwischenfälle ab. Am 16.3.2014 ließ man die Bevölkerung über den künftigen Status der Krim abstimmen. Die Ukraine erklärte das Referendum vorab für illegal, da eine Abspaltung von Teilen des Staatsgebiets in der ukrainischen Verfassung nicht vorgesehen sei. – Diese Argumentation, die vom größten Teil der westlichen Staaten mitgetragen wird, ist realistisch betrachtet Unfug: Kein Staat legt in seiner Verfassung die Regeln für den Abgang von Staatsgebiet fest. Auch die Verfassung der DDR hat nicht vorgesehen, daß man sich mit der BRD vereinigt und zu existieren aufhört. Niemand (im Vollbesitz geistiger Kräfte) käme deswegen auf die Idee, das heutige Deutschland als völkerrechtlich nicht existent oder illegal zu bezeichnen.
Das Ergebnis des Referendums war eine Zustimmung von 96,77% für den Beitritt zur russischen Föderation. Das Ergebnis wird von Kritikern angezweifelt, obwohl unabhängige Beobachter keine Manipulationen beobachteten.
Die wiederholte und zur ukrainischen Tagesrealität gewordene Feindseeligkeit gegenüber und Benachteiligung russischer Bevölkerungsteile führte zum offenen Konflikt in den Oblasten Luhansk und Donezk, auch bekannt als Donbass. Dort erklärten Vertreter der russischen Mehrheitsbevölkerung die Regionen für unabhängig und begründeten die sogenannten Volksrepubliken Donezk (7.4.2014) und Lugansk (27.4.2014).
Die Ukraine reagierte mit massivem Militäreinsatz im Osten des Landes und versuchte die abtrünnigen Oblasten wieder unter Kontrolle zu bringen, was nicht gelang.
In Richtung Süden scheute man die direkte Konfrontation mit den russischen Truppen und sperrte statt dessen die Trinkwasserversorgung der Krim. Dies waren die Zutaten für einen langanhaltenden und sich immer mehr steigernden Konflikt.
Als letzten realistischen Versuch, Frieden herzustellen kann man das Minsker Protokoll sehen, das im September 2014 zwischen der Ukraine, den zum „Föderativen Staat Neurußland“ zusammen geschlossenen Volksrepubliken Donezk und Lugansk, Rußland und der OSZE abgeschlossen wurde.
Sein Inhalt war:
1. Die unverzügliche beiderseitige Unterbrechung der Anwendung von Waffengewalt zu gewährleisten.
2. Das Monitoring und die Überprüfung der Waffenruhe durch die OSZE zu gewährleisten.
3. Die Dezentralisierung der Macht in der Ukraine zu verwirklichen, unter anderem durch die Verabschiedung eines ukrainischen Gesetzes „Über die vorübergehende Ordnung der lokalen Selbstverwaltung in bestimmten Regionen der Gebiete Donezk und Lugansk“ (Gesetz über den Sonderstatus).
4. Das ständige Monitoring an der russisch-ukrainischen Staatsgrenze und die Überprüfung seitens der OSZE zu gewährleisten, mit der Bildung einer Sicherheitszone in den Grenzkreisen der Ukraine und der Russischen Föderation.
5. Sofort alle Geiseln und ungesetzlich festgehaltenen Personen zu befreien.
6. Das Gesetz über die Nichtzulassung der Verfolgung und der Bestrafung von Personen in Zusammenhang mit den Ereignissen zu übernehmen, die in einzelnen Kreisen der Gebiete Donezk und Lugansk geschehen sind.
7. Den inklusiven nationalen Dialog fortsetzen.
8. Maßnahmen zur Verbesserung der humanitären Situation im Donbass zu ergreifen.
9. Die Durchführung vorgezogener Kommunalwahlen zu gewährleisten, entsprechend dem ukrainischen Gesetz „Über die vorübergehende Ordnung der lokalen Selbstverwaltung in den gesonderten Kreisen der Gebiete Donezk und Lugansk“ (Gesetz über den Sonderstatus).
10.Die ungesetzlichen bewaffneten Formationen, die Militärtechnik sowie die Freischärler und Söldner aus der Ukraine herauszuführen.
11. Ein Programm des wirtschaftlichen Wiederaufbaus des Donbass und der Wiederherstellung der Lebensfunktionen der Region zu beschließen.
12. Die persönliche Sicherheit der Teilnehmer der Konsultationen zu gewährleisten.
Das (zweite) Minsker Abkommen wurde im Februar 2015 unter Miteinbeziehung der EU-Staaten Deutschland und Frankreich beschlossen und konkretisierte die Umsetzung des zuvor abgeschlossenen ersten Minsker Protokolls.
Seither herrscht ein andauernder Krieg. Nicht einmal die geringsten Voraussetzungen zur Umsetzung des Minsker Abkommens wurden erfüllt. Keine der beiden Konfliktseiten ging einen Fußbreit zurück, da man der Gegenseite nicht traute. Der Konflikt weitete sich bald bis nach Mariupol, das auch heute wieder traurige Bekanntheit erlangt hat, aus. Zur Rückeroberung Mariupols von den Milizen der Volksrepubliken (Der „Föderative Staat Neurußland“ war schon im Mai 2015 wieder für beendet erklärt worden.) wurde das berüchtigte ASOW-Regiment, ein Kampfverband, der vor allem aus ukrainischen Neonazis bestand, eingesetzt. In Anlehnung an die „kleinen grünen Männchen“ auf der Krim wurden die ASOW-Kämpfer „kleine schwarze Männchen“ genannt. Vor allem der Einsatz derartiger Verbände, die mehr durch brutale und rücksichtslose Kampfführung als durch militärisches Fachwissen auffielen, die sich bewußt einen Namen durch ihre bestialischen Kriegsverbrechen machten, befeuerte den ohnehin schon entfesselten Konflikt noch mehr und machten es für die betroffenen Parteien der Regionen immer unmöglicher, jemals wieder miteinander an einem Verhandlungstisch zu sitzen.
Die Ukraine läßt sich seit 2014 vom Westen mit Waffen und Ausrüstung unterstützen während die Volksrepubliken des Donbass von Rußland versorgt werden.
Keine guten Voraussetzungen für Frieden. Wenige Tage vor dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine stellten OSZE-Beobachter ein neues Hoch ukrainischer Raketenangriffe auf das Territorium der Volksrepubliken fest. Man zählte rund 1400 Raketeneinschläge.
Kommenden Mittwoch widmen wir uns dem Zeitraum seit dem 24.02.2022, als die russischen Truppen in die Ukraine eindrangen.
Bleiben Sie dran! Bleiben Sie informiert!
Den ersten Teil unserer Kurzserie finden Sie hier.
Den dritten und letzten Teil unserer kurzen Serie finden Sie hier.
Fotos:
Euromaidan / UNA/UNSO-Flaggen © wikimedia / sergento / cc by-sa 3.0
Orange Revolution © wikimedia / Marion Duimel / cc by-sa 3.0
Karte Pipelines © wikimedia / Onno / cc by-sa 3.0
Russische Soldaten auf der Krim © wikimedia / Anton Holoborodko / cc by-sa 3.0
Verhandlungen zum Minsker Abkommen © wikimedia / kremlin.ru / cc by-sa 3.0