Blick durch Europa
Seit dem 24.2.2022 bestimmt ein Konflikt in weiten Teilen unser Leben, von dem wir vor 10 oder 20 Jahren höchstwahrscheinlich noch gesagt hätten, daß er uns nichts angeht.
Das plötzliche Interesse der europäischen Spitzenpolitik an den Konflikten in den östlichsten Teilen Europas läßt sich leicht erklären: Interesse, das eigene Einflußgebiet nach Osten auszudehnen. Vor 100 oder 200 Jahren wurden solche wirtschaftlichen Ambitionen entweder durch Heirat oder durch Krieg ausgelebt. Nur in den seltensten Fällen waren die Hauptleidtragenden solcher Entwicklungen in die Entscheidungsprozesse eingebunden. Und dies hat sich offenbar bis heute nicht geändert.
Die Ukraine, ein Staat, der sich seine Geschichte erst selbst zusammenbastelt – und das ist keinesfalls despektierlich gemeint – ist seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf der Suche nach sich selbst, nach dem Way Of Life, den man für sich, für das ukrainische Volk als passend ansieht. Ein wesentlicher Teil dieser Selbst(er)findung ist die Abgrenzung von Rußland. Rußland wird nach wie vor mit der Sowjetunion, mit den Okkupanten und Unterdrückern gleichgesetzt. Daß man den Russen damit sicherlich auch Unrecht tut, wird wissentlich ignoriert. Bei dieser Selbstfindung ist das (ukrainische) Hemd wesentlich näher als der (russische) Rock. Und es ist hoffentlich unbestritten, daß die Ukraine unter dem Sowjetsystem schier unbeschreibliches Leid erfahren mußte. Allerdings war es eben das Sowjetsystem, der Kommunismus, der das Leid brachte, nicht automatisch die Russen. Die Russen hatten im Nachhinein den Nachteil, daß sie als größte Bevölkerungsgruppe der UdSSR auch der sichtbarste Teil jeder Unterdrückung waren.
Das größte Leid zu „Friedenszeiten“ wurde den Ukrainern sicherlich auf Befehl von Stalin angetan. Übrigens war Stalin, der geborene Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili, Georgier, der als Schulkind erst die russische Sprache erlernen mußte. Dieser Stalin sorgte mit seinem brutalst umgesetzten Befehl der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft für die schrecklichste Hungersnot, die man sich in einem Land, wie der Ukraine, der früheren „Kornkammer“ des gesamten russischen Reichs, überhaupt vorstellen kann. „Holodomor“ wird dieses Verhungern lassen durch die kommunistischen Machthaber genannt. Je nach politischer Färbung der Historiker wird auch die Anzahl der damaligen Todesopfer angegeben. Von „nur“ 2 Mio. Toten bis zu 15 Mio. Opfern des Tötens durch Hunger wird gesprochen. Der Hauptverantwortliche für die brutale Umsetzung von Stalins Befehlen war übrigens ein Parteikader namens Lasar Moissejewitsch Kaganowitsch, ein im Oblast Kiew geborener Ukrainer. Noch heute wird unter Geschichtswissenschaftlern und Juristen darüber diskutiert, ob die mit Waffengewalt umgesetzte Politik der Enteignung weiter Teile der Bevölkerung und die Zwangskollektivierung der gesamten Landwirtschaft als Völkermord klassifiziert werden kann und darf. So werden die Umsetzer der kommunistischen Zwangsmaßnahmen nach wie vor mit dem Argument verteidigt, es hätte nicht das Ziel der physischen Vernichtung weiter Teile der Bevölkerung gegeben, sondern „nur“ des Abtransports der vorgefundenen landwirtschaftlichen Güter. Eine mehr als seltsam anmutende Argumentation, da das Verhungern eine zwangsläufige Folge dessen ist, wenn man restlos alles an Getreide, inklusive des Saatgutes, sowie alle Tierbestände deren man habhaft wird, beschlagnahmt und wegschafft.
Der zweite Weltkrieg brachte der Ukraine auch mehrfaches unendliches Leid. Erst wurde das Land durch die sich zurückziehenden Truppen der Roten Armee verwüstet. Die Dörfer wurden zerstört, angezündet, und alles Brauchbare mitgenommen. Dann eroberten die Truppen der Wehrmacht das Land. Als sie sich dann unter dem Druck der Sowjetarmee zurückziehen mußten, wandten sie die gleiche Taktik der verbrannten Erde an, wie zuvor die Sowjets. Leidtragende waren wieder die Ukrainer. Viele der Ukrainer wurden von den Politoffizieren der in Richtung Westen vorrückenden Sowjettruppen als Verräter und Kollaborateure angeklagt und verschleppt oder hingerichtet. Daß auf ukrainischem Boden ein teilweise heftiger Partisanenkrieg gegen die Besatzer der Wehrmacht geführt wurde, blieb von die politischen Abteilungen der Roten Armee oft unbeachtet. Am Ende des zweiten Weltkriegs waren von rund 41 Mio. Ukrainern (1941) nur noch etwa 27 Mio. (1945) am Leben, und über 10 Mio. Ukrainer obdachlos. Eine 1942 gegründete ukrainische Untergrundarmee wehrte sich bis zu ihrer endgültigen Auslöschung um 1956 gegen die kommunistische Herrschaft.
Nach dem zweiten Weltkrieg vergrößerte sich die Ukraine ungemein. Der südöstliche Teil Polens, der 1939 schon entsprechend den geheimen Zusatzvereinbarungen des Hitler-Stalin-Paktes, von der Sowjetarmee erobert wurde, wurde der Ukraine angegliedert. (Andere ehemals polnische Gebiete wurden anderen Sowjetrepubliken, wie Litauen und Weißrußland/Belarus zugeschlagen.) Teile Rumäniens wurden an die Ukraine übergeben. Aus einem anderen Teil des damals rumänischen Staatsgebietes entstand die Moldauische SSR, eine Teilrepublik der Sowjetunion. Und 1954 wurde die zuvor russische Krim vom damaligen Staatschef der UdSSR Nikita Chruschtschow der Ukraine angeschlossen. Nikita Chruschtschow selbst stammte übrigens aus dem russischen Kursk und übersiedelte im Alter von 14 Jahren in den Donbas. Innerhalb weniger Jahre hatte sich die ukrainische Bevölkerung auf rund 37 Mio. erhöht!
Für Sowjet-Verhältnisse erging es der Ukraine, der ukrainischen SSR, gut. Die Zeit nach Stalin war sehr stark vom Wiederaufbau und einer weit greifenden Industrialisierung geprägt. Auch Kultur und Wissenschaft waren (vergleichsweise) stark gefördert. Bis 1989, zwei Jahre vor dem Zerfall der UdSSR, war die Bevölkerung der Ukraine auf beinahe 52 Mio. Einwohner angewachsen.
1991 zerbrach die UdSSR. Rund 70 Jahre eines grausamen gesellschaftspolitischen Experiments, des Versuchs, Kommunismus in der Praxis zu leben, waren beendet. Viele Millionen Menschenleben hatte der Irrsinn einer linken Phantasterei gekostet.
Für die Ukraine begann eine neue Zeit. Über 90% der Bürger des Landes hatten sich in einer Volksabstimmung für Eigenstaatlichkeit entschieden. Gleichzeitig trat man mit vielen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken der GUS, der Gemeinschaft unabhängiger Staaten bei, der man bis zum Austritt 2018 angehörte.
Den zweiten Teil unserer kurzen Serie zum Thema Ukrainekonflikt finden Sie hier.
Den dritten und letzten Teil unserer kurzen Serie finden Sie hier.
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